Zeitreise in die Kindheit
Heute morgen hatte ich einen Termin in Gotha zum Reifenwechsel bei Suzuki. Es hieß, es dauert eine Stunde. Also dachte ich mir, dass ich diese eine Stunde für meine tägliche Runde nutze. Es gab kein Ziel und ich bin einfach los und bog nach links ab. Auf dem Weg spürte ich eine Energie, die mir mit jedem Schritt vertrauter wurde. Auf einmal fühlte sich alles so heimisch an. Ich war an dem Ort, an dem ich 12 Jahre meiner Kindheit verbracht habe – das Gothaer Ghetto. Ich möchte dich mit auf diese Zeitreise nehmen und versuchen, dir meine Gedanken beim Gehen nahe zu bringen.
Viele Jahre wollte ich mit dieser Gegend nichts zu tun haben und hatte auch keine Sehnsucht, die Plätze aufzusuchen, welche mich prägten. Schon komisch, aber wahrscheinlich normal, wenn man sich von den Eltern abnabelt. Seit ich hier in Georgenthal lebe, überlege ich, was es braucht, um sich heimisch zu fühlen und warum ich immer wieder eine tiefe Geborgenheit spüre, wenn ich an Plätzen bin, die Teil meines Lebens waren. Durch wen kam die Geborgenheit? Ich komme zu der Erkenntnis, dass es durch Familienleben, durch Freunde, durch Partys und durch GemeinsamZeit diese Orte lebendig machte.
Aber nun will ich dich mit ins Gothaer Ghetto nehmen und in meine Kindheit. Wir Topfs haben in der August-Creutzburg-Str. 5 in einer 4-Raum-Wohnung zu fünft gewohnt. Es gab Einkaufsmöglichkeiten, Spielplätze, Parkplätze und jede Menge Kinder, mit denen wir Freundschaften aufbauen konnten. Wir waren jeden Tag viele Stunden an der frischen Luft und sind nur rein, wenn meine Mutter zum Essen gerufen hat, wir im Haushalt helfen durften 😉 oder eben für die Schule was machen mussten. Es gab ja noch keine Handys und wir sind „einfach so“ zu unseren Freunden gegangen und haben geklingelt und gefragt, ob sie zum Spielen runter kommen. Meine Jungs würden jetzt sagen, dass ich ein Boomer bin ;-).
Während des Laufens über den Platz, wo früher das „Sternchen“ war, nahm ich auf einmal einen Geruch von Bratkartoffeln war. Irgendjemand kochte etwas Leckeres und ich hatte sofort uns drei Schwestern vor Augen und hörte meine Mum, wie sie uns zum Essen ruft und uns mit einer Umarmung begrüßt. Da war sie wieder, die Geborgenheit. Dann kam gleich ein Gefühl von Liebe und Vertrauen.
Im Gothaer Ghetto habe ich Fahrrad fahren gelernt, hab mich das erste Mal verliebt, ging da zur Grundschule, man hat mir Kartenspiele beigebracht. Auch die schönen, gemeinsamen Kuschelstunden oder die Spielenachmittage in unserer Neubauwohnung mit meiner Mutter und meinen Schwestern haben mich geprägt. Dieses Gefühl versuche ich jeden Tag an meinen Sohn weiterzugeben, damit auch er lernt, was Liebe und Geborgenheit bedeutet. Zu den Spielnachmittagen gibts noch was zu sagen: wir hatten dabei sehr viel Spaß, aber immer einer hat das Spiel für beendet erklärt, indem er die Figuren übers Brett warf, weil er verloren hatte ;-).
Leider musste auch weniger schöne Erfahrungen machen. Nicht alle Jugendlichen waren freundlich und aufgeschlossen, wie wir Topfs. Meine Mutter hat uns sehr geprägt und uns beigebracht, aufgeschlossen und offen zu sein. Nur hat das nicht in jedem Fall funktioniert, so dass wir auch angegriffen worden. Damals war es völlig normal, sich zu rangeln, zu schupsen, zu beißen und zu kratzen. Auf jeden Fall habe ich gezwungenermaßen lernen müssen, mich gegen Ungerechtigkeiten durchzusetzen und meine Schwestern zu beschützen.
Ich möchte dir nun einige Bilder zeigen und dir erklären, warum dieser Platz für mich so besonders ist:
Das ist die August-Creutzburg-Str. 5. Die unteren Fenster waren die Kinderzimmer von meinen Schwestern und mir. Früher war hier noch ein Vorgarten. Hier stand mal ein Block, indem meine Freundin wohnte. Der Platz beim „Sternchen“ war ein beliebter Treffpunkt für uns. Wir trafen uns dort mit unseren Freunden und auch die erste Verliebtheit war Teil dieses Ortes. Das „Sternchen“ von unten. Hier konnte man prima „abhängen“. Dass es diese Automaten noch gibt, ist echt erstaunlich ;-). Ich habe diese großen runden Kaugummis geliebt. Das „Sternchen“ ist heute sehr in Mitleidenschaft gezogen. Damals durfte man in den Kneipen noch rauchen und alles roch danach, wenn man heimkam. Das ist heute unvorstellbar. Hier stand früher eine Kaufhalle (war das Rewe? Ich weiß nicht mehr genau…), in der wir mit meiner Mutter gelegentlich auch einkauften. Der alte Jugendclub „Die Zelle“ war ein Treffpunkt für Kids, an dem ich nur gelegentlich mit meinem Vater war, wenn er dort mit einem Kumpel die Lasershow zu den Konzerten am Abend machte. Heute steht hier ein neuer Spielplatz. Früher gab es hier ein Häuschen, in dem ich die erste und letzte Zigarette probierte ;-). Ich konnte den Zauber um die Raucherei nicht verstehen, aber das „heimliche“ hatte was. Das war dann also der Zauber ;-)… An diesem Platz standen zwei Stein-Tischtennisplatten, an denen ich mit großen Jungs spielen lernte. Die waren teilweise nicht nett und ich musste mich ganz schön behaupten, um auch mal zu gewinnen. Aber ich habe es geliebt. Bei schlechtem Wetter saßen wir unter der Platte und redeten und lachten. An diesen Platz habe ich nicht nur gute Erinnerungen. Im Ghetto wurden wir Mädchen auch oft von den großen Jungs in die Ecke gedrängt und bedroht. Zum Glück waren wir nie allein unterwegs und so war immer Hilfe im Hintergrund. Auf dem Platz der Wäscheleinen hatten meine Schwestern und ich öfter eine Decke ausgebreitet und wir spielten Karten oder machten Picknick. Auf diesem Spielplatz waren wir oftmals den ganzen Tag, außer zu den Mahlzeiten. Früher war hier noch ein anderes Klettergerüst und eine Rutsche. So war der Blick aus meinem Kinderzimmerfenster. Ein Parkplatz vor dem Haus, daneben die „Freundschaft“ (jetzt der Aldi) und keine 50 m entfernt ist der Coburger Platz.
Rückblickend betrachtet: Ich hatte als Kind nie das Gefühl, dass mir etwas gefehlt hat. Wir hatten kein riesiges Haus und keinen Garten, weil meine Eltern mit drei Kindern mit wenig Geld zurecht kommen mussten. Wir hatten aber uns als Familie mit gemeinsamen Erlebnissen. Heute beim Spaziergang durch das Ghetto habe ich die mütterliche Liebe noch mehr gespürt, als vorher. Als Kind haben ich bestimmt auch gemeckert und mich beschwert, aber heute weiß ich, dass mein Urvertrauen in die Welt damit zu tun hat, dass ich behütet aufgewachsen bin.